Graben und neu ordnen

Zu „Apocalypse – A Bill Callahan Tourfilm"

Am 8. Februar 2012 spielte Bill Callahan im Rahmen der American Songbook Series im Lincoln Center, New York. Der Ort hat nicht nur einen einschüchternden Namen und beherbergt eine Konzertreihe mit einem einschüchternden Namen, die Betreiber des Lincoln Center erinnern ihr Publikum in den Programmheften auch daran, dass - Zitat - „das Geräusch des Hustens und des Raschelns mit Papier die auftretenden Künstler ablenken“ könnte.

Wer eingeladen ist, in diesem eher betulichen Rahmen seine Lieder darzubieten, darf auch etwas ins Programmheft schreiben. Bill Callahan begann seine „Note from the Artist“ mit „Als erstes sollte ich erwähnen, dass ich die Sonne erfunden habe.“

Diese Begebenheit beweist zwei Dinge: erstens, dass Bill Callahan, der gerne als äusserst geheimnisvoller Grübler gesehen wird, gar nicht immer so grüblerisch ist, sondern gerne mit Humor hantiert. Und dass er zweitens nach langen Jahren zumindest von Teilen der US-amerikanischen Öffentlichkeit als einer der grossen Songschreiber der Gegenwart anerkannt wird, der seinen Teil zum sich stetig erweiternden „Great American Songbook“ beisteuert. Mit diesem Umstand spielt auch der Anfang des Films, der gleich beginnen wird: Bill Callahan liest befremdet bis gerührt Zitate über sich selbst aus der „New York Times“ vor.

Zu dieser Anerkennung hat Bill Callahan etwas Entscheidendes beigetragen, das mit Musik auf den ersten Blick nichts zu tun hat: Er hat 2007 gegen die heftigen Ängste seiner Indie-Plattenfirma den eigenen Taufnamen angenommen. Davor hatte er seine Platten 17 Jahre lang unter dem nach Band klingenden Pseudonym „Smog“ veröffentlicht. Smog war ein Underground-Held mit einer vergleichsweise kleinen, aber hingebungsvollen Fanschar. Smog stand für Low-Fi, für nicht formatradiotaugliche Folk-Aufnahmen, für hypersensibles Songwriting, kurz: für den idealen Liebling einer gut informierten Insider-Szene.

Das ist ja nun ein durchaus respektabler Status. Was aber wunderbar paradox ist, ist, dass sich Bill Callahan als Bill Callahan anhört, als hätte er eine Befreiung erlebt; als hätte ihn der Smog, diese flüchtige, formlose Substanz, dieses Vage einzuengen begonnen. Callahans Musik wurde seither soundtechnisch zugänglicher, seine Persönlichkeit als Songwriter hingegen unberechenbarer. Jede der drei Studioplatten, die „Bill Callahan“ veröffentlicht hat, gehorcht einem eigenen Konzept und unterscheidet sich einigermassen radikal von ihrer Vorgängerin. Es gibt die störrische und trotzdem kaleidoskopartige Pop-Sammlung, die Streicher-Platte mit den vielen Vogel-Metaphern und das schroffe, reduzierte Folk-Album. Aus dem interessanten, aber etwas verhuschten Smog ist ein Musikdirektor geworden, der seine Eigenheiten selbstbewusst in verschiedenste ästhetische Zusammenhänge stellen kann. Das Wichtige dabei bleiben die Eigenheiten. Die älteste dieser drei Platten, „Woke on a Whaleheart“, ist übrigens Bill Callahans einzige, bei der er die Produktion und die Arrangements völlig in die Hände eines anderen gelegt hat. Wo also erstmals Bill Callahan draufstand, ist streng genommen weniger Bill Callahan drin als je zuvor.

Doch Namensänderung hin und der Charme einer scheinbar widersprüchlichen Logik her, es geht ja um das Schreiben und Aufnehmen von Songs, es geht um Musik.

Als erstes fällt da Bill Callahans Stimme auf. War die Stimme von Smog etwas blass und trotzig, so singt er heute mit einem kräftigen, extrem vertrauenswürdigen Bariton oder gar Bass. Die Amerikaner nennen diese Stimme gerne „deadpan“, also „ausdruckslos“, aber das ist wohl den derzeit in Mainstream und Indie omnipräsenten sehr offensiv-emotionalen Gesangsstilen geschuldet, die lieber klotzen als kleckern. Callahan kleckert. Gerade wenn man ihn wie in diesem Film live sieht, wird klar, wie viele Nuancen in seinem eher geringen Tonumfang stecken. Und wie überzeugend er sich die Möglichkeit erobert hat, Gefühl in seinen Gesang zu legen, zu verziehen, zu betonen, zu verschleppen, ja zu virtuosieren, auch wenn gar nicht viel zu passieren scheint. Callahans Songs sind Songs der Verdichtung; allerdings nicht unbedingt der Verdichtung aufs Wesentliche, sondern aufs Stimmige; sie behandeln schon mal lieber die bucklige Schale als den Kern.

Das gilt gerade auch für die Songformen. Bill Callahan Songs haben einen Fluss, der sich nach den Gesetzen des Textes windet. „Honeymoon Child“, ein Lied über ein Sonnenkind, dessen Glück am Schluss verflogen ist, besteht aus fünf-sechs Teilen, die sich nie wiederholen. Es gibt kein Zurück. „Drover“ ist ein ständiges Auf und Ab, mit zwei Refrains als Festhaltepunkten, eine minimalistische musikalische Schluchtenfahrt, die den inneren Monolog eines Viehtreibers vertont, dessen Welt zerfällt. „Bowery“, das Lied über den Grossvater, der ohne Angabe näherer biografischer Gründe als Junkie auf New Yorks Pennermeile stirbt, wird am Schluss zu einem reissenden Strom aus Geigen. Der könnte jeden mitreissen; niemand ist gefeit.

Alle diese Lieder sind im weiteren Sinne Folksongs. Die Bestimmtheit der Form wird dem Hörer nicht ins Gesicht geschrien, sondern sanft ins Ohr gemurmelt. Bill Callahan, das sei an dieser Stelle noch kurz erwähnt, schreibt seine Texte immer zuerst, er schreibt Wort um Wort, dann kürzt er wieder und wieder, bis sein Gefühl ihm sagt: „Das ist jetzt ein Album.“ Dann gehts ans Komponieren.

Insgesamt ergibt das eine Musik, die nicht selten herkömmliche Logik aufs Angenehmste zu unterhöhlen scheint. Dazu passt, dass Callahan in einem seiner vielen, höchst originellen Interviews – man sollte die allerdings schriftlich führen, im Gespräch bleibt er oft einsilbig – beschreibt, er würde beim Komponieren einen Block Stille nehmen, und aus diesem seine Gitarrenparts herausschneiden; das Nichts sei überhaupt seine wichtigste Inspiration.

Ausgehöhlt wird auch auf Bill Callahans letzter Platte. Sie heisst „Apocalypse“, hat also diesem Tourfilm seinen Titel gegeben. Fünf von sechs Liedern im Film stammen von ihr. Vielfach ist sie als seine politischste aufgefasst worden, sie ist zweifellos eine Platte über die USA. In einem Lied fällt dem Sänger ein Feuerwerkskörper ins Boot und bringt es zum Sinken – man muss unwillkürlich an den 4th of July denken, der auch im Film vorkommen wird. Mit dem Boot sinken auch alle unnötigen Rollen, denen sich der Sänger verschrieben hat. Im stampfenden Song „America“ kommen die militärischen Ränge vor, die Songwriter-Grössen wie Mickey Newbury oder Johnny Cash erreicht haben, es kommt Afghanistan vor, das Schweinezüchten am Mississippi, es kommen die Glücklichen vor, die an der Zitze saugen können. „Apocalypse“ regt dazu an, die Versatzstücke der heutigen und der vergangenen Vereinigten Staaten von Amerika neu zu ordnen. Es wird gegraben und gegraben, bis der Boden verdächtig locker wirkt – beste Voraussetzungen für eine ganz andere Lösung.

„Ich versuche so klar zu sein wie der Rio Grande“, sagt Bill Callahan zu seiner Songschreibertechnik. Aus der Innensicht mag das stimmen, auch wenn der Rio Grande vermutlich nicht besonders klar ist. Von aussen betrachtet sind diese wortarmen, bilderreichen Songs nicht so leicht zu durchschauen, wie das der Autor angeblich anstrebt. Weil viel weggekürzt wurde, bleibt viel offen. Die Lieder sind in einem fort in Bewegung, wie schaufelnde Maschinen, deren Richtungen und deren Geschwindigkeiten ständig minimal variieren.
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