Im Kirschgarten des Schulmeisters

Der Berliner Kolumnist Max Goldt las im Theater Gessnerallee aus seiner neuen Textsammlung "Der Krapfen auf dem Sims".

Das Vorwort zu dem frühen Max-Goldt-Buch "Quitten für die Menschen zwischen Emden und Zittau" bezeichnet den Berliner Autor als "liebenswerten Pfiffikus und Zweifler". Nun ja. Nicht dass das inhaltlich unbedingt falsch wäre, aber es klingt doch ein wenig nach Unterbewertung. Max Goldt ist Perfektionist, oder besser: Bei Max Goldts Auftritten drängt sich dem Zuseher die Idee auf, Goldt müsse wohl Perfektionist sein.

Das Entstehen dieses Eindrucks ist leicht begründet. Goldts Texte sind gut. Sehr gut sogar. Die ganze Welt kommt darin vor, sie wird auf assoziative, sprunghafte und doch bemerkenswert unhastige Weise durchwandert, Begriffe tauchen auf und verschwinden wieder, einige - wie etwa "Art Stylist" als Coiffeur-Selbstbezeichnung - werden in ihrer Lächerlichkeit entblösst, andere netterweise einfach erklärt. Oft äussert Goldt Meinungen, noch öfter relativiert er sie wieder. Insgesamt kann man so den Makrokosmos eines anscheinend überaus umtriebigen Beobachters erforschen, eines überdurchschnittlich, um nicht zu sagen herausragend intelligenten und begabten Glossisten, der sich, zwischen Humanismus und Arroganz zerrissen, meist für die Menschlichkeit entscheidet. In den wahnwitzig verschnörkelten Sätzen seiner Alltagsbeobachtungen steckt eine Riesenladung Substanz, die weit über das hemmungslos geistreiche Kommentieren der Welt hinausgeht.

Was den Eindruck von Perfektionismus perfekt macht, ist Goldts Vortragsweise. Er liest seine eigenen Texte vorwiegend im Tonfall eines Märchenonkels. Relativ stoisch stapft er durch den verwilderten Kirschgarten seiner Grotesken, ohne sein schauspielerisches Talent zu verleugnen. An den korrekten Stellen verändert sich die Stimme, und auch die linke Hand schwingt nicht mehr locker-musisch über die Tischplatte, sondern trippelt nervös oder plumpst jäh herab. Wenn er Briefschreiber entlarvt, die als Begrüssungsfloskel nach viertelstündigem Sinnieren doch nur ein "unsouveränes, läppisches und unsicher wirkendes Hallo" zu Stande bringen, dann klingen diese fünf Buchstaben tatsächlich genau so. Er spricht von den "damaligen Menschen", die in den 70er-Jahren Glasflächen mit geheimnisvollen Raubvogelaufklebern versehen hätten, und im Klang dieser zwei Worte steckt alle erdenkliche Verwunderung über eine seltsame, ausgestorbene Spezies.

Aber genug der Details. Goldt ist witzig, Goldt ist unglaublich komisch, der Rezensent hat bereits nach fünf Minuten Lesung seinen Kaugummi vor Lachen verschluckt; Goldt ist fähig, in der Zugabe Sätze aus einem BBC-Deutschlehrbuch - "Ist das die Fabrik? Nein, das ist der Bahnhof." - in eine dadaistische Dämonie zu verwandeln. Goldt ist aber auch, und das macht wohl einen Gutteil seiner Faszination aus, ein beamtenhafter Verwalter seiner genialischen Exkurse. Er scheut sich nicht vor dem Gebrauch des Schulmeisterlichen, wenn ihm etwas wirklich so ernst ist wie seine Sorge um den schlechten Zustand der Sprache oder seine Verachtung für längst mehrheitsfähig gewordenen, selbstgefällig unkorrekten medialen Zynismus. Bei aller Blumigkeit ist da ein Streben nach Ordnung zu erkennen, Goldt scheint, um das Gute zu ermöglichen, zu vielem bereit, auch zur Zähmung seines eigenen wilden Geistes.

Diese Haltung ist auf Grenzen angewiesen. Am Schluss seiner Lesung geht Goldt für die letzte Verbeugung ganz nah zum Publikum, so nah, dass er den ausgeleuchteten Teil der Bühne verlässt, und sein Gesicht unsichtbar bleibt. Zweifellos ein kitschiges Bild, aber in solchen Momenten wie auch beim anschliessenden rituellen Signieren - Goldt lächelt, fragt nach dem jeweiligen Namen, unterschreibt, sagt freundlich "Bitte sehr" und "Auf Wiedersehen" - steht die Ahnung im Raum, dass der Perfektionismus unter anderem eine sehr einsame Dimension hat.
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