Die Gelegenheit ist günstig, dachte ich. Eine Loop-Nummer zu missglückten Platten ist doch der ideale Ort, um über das geglückteste Album aller Zeiten zu schreiben. Denn diesem ist natürlich auch eine Folge meiner kleinen 15-Platten-Videoreihe gewidmet. Es handelt sich um, aber das wissen Sie sicher selbst, «Fragments of a Rainy Season» von John Cale.

Bestürzenderweise hat Cale (Velvet-Underground-Gründer, Pianist, Violist, Sänger, Komponist, «Music runs out of him like water over a rock» sagte Lou Reed, obwohl sie ständig stritten) die Platte in einer Zeit aufgenommen, als er wegen anhaltender Erfolglosigkeit keine richtige Plattenfirma hatte. Fast die gesamten 90er-Jahre war das der Fall. Dass ein Musiker seines Kalibers mit solchen Unwürdigkeiten zu kämpfen hat, sagt einiges über die Musikindustrie und auch ein bisschen was über die unberechenbare - manche würden sagen: irrlichternde - Persönlichkeit Cales aus. Auf «Fragments of a Rainy Season» ist allerdings Schuss mit Irrlichtern. Hier handelt es sich um eine sehr konzentriert dargebrachte Liedsammlung. «Fragments» ist eine Liveplatte, bestritten von einem einzigen Mann mit Klavier und gelegentlich Westerngitarre.

Innerhalb dieses schlichten und genau definierten Rahmens zieht John Cale nun eine Welt auf, die fast unbegrenzt scheint. Das liegt einerseits daran, dass er auf hervorragend komponierte Songs und Musikstücke aus über zwei Jahrzehnten zurückgreifen kann. In den Originalversionen wurden diese mal als stoischer Folk, mal als polternder Rock und mal als Suiten mit Symphonieorchester und Knabenchor aufgenommen. Vor allem aber besitzt Cale am Klavier die unheimliche Fähigkeit, genau diese verschiedenartigen Arrangements zwischen den Noten herumwabern zu lassen, ohne sie tatsächlich auszuspielen. Man hört, dass da eigentlich viel mehr ist als man hört. Es gibt die Musik, es gibt den Hörenden, und es gibt noch ein ungreifbares Drittes. Es ist ein bisschen ein Wunder.

Freilich kann man auch versuchen, es weniger blumig zu sagen: Manchmal schreit Cale herum («Guts»), manchmal singt er melancholische Melodien diszipliniert aus («Dying on the Vine»), manchmal wird es elegisch («Lie Still, Sleep Becalmed»), manchmal rührend («Close Watch»), manchmal bedrohlich («Fear Is a Man’s Best Friend») und manchmal findet man sich in einem verwunschenen, nebligen Jahrmarkt wieder («Heartbreak Hotel»). Die titelgebenden Fragmente fügen sich zu einer Kopfreise erster Güte zusammen. Wenn Sie diese Reise jetzt antreten wollen: Nicht die Original-CD, sondern unbedingt die Vinyl-Neuauflage von 2016 besorgen. Die klingt besser und hat die viel bessere Songreihenfolge.


https://www.youtube.com/@DukGef
14. Platte von 15: «Fragments of a Rainy Season», John Cale, 1992 (2016), Hannibal (Domino)
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