Es liegt mir fern, hier Defätismus zu verbreiten, aber: Wenn man mit Videos zu 15 Platten den Reichtum der Rock- und Popmusik demonstrieren will, dann gibt es dabei eines ganz sicher nicht, nämlich Ausgewogenheit. Nicht alle Bevölkerungsgruppen können angemessen repräsentiert werden. Bei meinen 15 Platten etwa ist die grosse Welt der deutschsprachigen Musik nur durch ein Produkt vertreten. Das ist dafür die bösartigste Platte, die je in Deutschland erschienen ist. Behaupte ich.

„K.O.O.K.“ heisst sie, und sie ist von Tocotronic. Tocotronic waren in meinem Leben die einzige Band, deren Mode ich einigermassen folgte. Uncoole Trainingsanzüge und T-Shirts lächerlicher Firmen, wie die drei jungen Musiker sie Anfang-Mitte der 90er-Jahre trugen, begeisterten mich. Mit laut-leise-Grungegitarrensongs und trotzigen Anti-Slogans waren Tocotronic berühmt geworden. „Sie wollen uns erzählen“, sangen sie, und „Gitarrehändler, ihr seid Schweine“. Sie sangen gegen das Establishment an und boten enorm viel fürs Wir-Gefühl. Ein gefundenes Identifikations-Fressen für uns Anti-Machos und Anti-Rocker und Anti-Kapitalisten.

Und dann kam 1999 „K.O.O.K.“. Die Lieder wurden länger, die Musik verschlungener, die Texte uneindeutiger. Und gerade weil es mich damals als halbwegs jungen Mann nach Wir-Gefühl dürstete, übersah ich die eklatante Bösartigkeit dieser Platte. Vier Plattenseiten und 17 Lieder lang fangen Tocotronic hier das Ungenügende dieser Welt ein. Eigentlich hätte es der Plattentitel eh schon gesagt: K.O. zu sein ist okay. Vielleicht geht es gar nicht anders. Denn ringsumher wird nur noch „fröhlich und entspannt“ posiert, man verirrt sich „in einem Labyrinth von Gängen“, und das ist ja noch die bessere Lösung, denn ansonsten gerät man in „die langweiligste Landschaft der Welt“, in der „unser Stolz und unsere Würde verloren gehen“. Das sind Zitate aus vier verschiedenen Songs, aber sie gehören alle zusammen. Tocotronic machen mit „K.O.O.K.“ klar, dass diese Welt eine durch und durch dürftige ist.

Das Schöne an dieser bösen Platte ist nun, dass Tocotronic die Dürftigkeit mit ausufernder, aber unvirtuoser Musik einfangen. Hier kommt es nicht mehr auf den Effekt, nicht mehr auf Laut-Leise, sondern auf den Flow an. Zwei-drei verlorene Gitarrentöne, ein präzise humpelnder Schlagzeug-Einsatz, ein Waldhorn-Ton im Hintergrund, diese Kleinigkeiten gewinnen an Wichtigkeit. Man muss sich der Realität verweigern und in der Musik nach Möglichkeiten suchen. Auf „K.O.O.K.“ sind Tocotronic ihrer Post-Rock-Zukunft auf der Spur, und sie finden sie nur in Teilen. Gerade deshalb ist diese Platte eine der konsequentesten, die ich kenne.


https://www.youtube.com/@DukGef
6. Platte von 15: «K.O.O.K.», Tocotronic, 1999, L’Age D’Or
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