1

Es gibt nichts aufzudecken. Es gibt nur Geschichten zu erzählen. Geschichten über einen Mann, der nicht weiss, dass ich existiere. Ich aber weiss, wie er existiert hat. Und wie er immer noch, im Moment unbeachtet, existiert.

Gelegentlich frage ich mich, wie ich in diese Situation gekommen bin. Alles über Peter Arbogast zu erzählen, anstatt von Dingen zu schreiben, die mir nahe sind. Die ich mir nicht zusammenklauben muss aus Gesprächen, Verweisen, Zeugenaussagen, Dokumenten. Warum halte ich mich nicht an das, was ich selbst erlebt habe? Warum suche ich mein Heil irgendwo anders, irgendwo da draussen, irgendwo weit weg?

Das sind sinnlose Fragen, dumme sogar. Ich habe mit allem abgebrochen. Ich habe meine Verwandtschaft zum Teufel gejagt. Meine Verwandtschaft hat mich zum Teufel gejagt. Wie auch immer. Es ist ja zum Lachen, vor kurzem sass ich an meinem Küchentisch und spann mir folgendes Bild zusammen: Ich stehe auf einem handgezimmerten, aber zweckmässigen Holzdeckel, den ich über die Jauchegrube, die meine angeheiratete Verwandtschaft ist, gelegt habe. Manchmal hebt sich der Deckel leicht, wegen der grässlichen, unberechenbaren Schwaden, die darunter zum Licht der Welt streben. Dann gerate ich kurz ein wenig aus der Balance. Aber im Grossen und Ganzen hält der Deckel. Leider wird mir ganz schlecht, wenn ich daran denke, wie sich die Schwaden da unten immer wieder neu formieren, sich genau in dem Moment mit grosser Kraft zusammenballen, in dem ich am wenigsten damit rechne.

Darum darf ich nicht daran denken.

Vergiss doch die Schwaden, sagte ich mir am Küchentisch sitzend. Vergiss die Jauche. Soll sie da unten vor sich hingären, wie sie will. Ich ziehe in die Ferne. In die weite Ferne eines anderen Kopfes.

Ja, so spann ich, so konnte ich dank Ihres Auftrages spinnen, aber als sich das Bild dann wieder aufgelöst hatte, bin ich schon ein bisschen erschrocken. Das geht ja alles nicht auf. Jauche hat keinen Willen, wie lächerlich ist das denn? Da sass ich und unterstellte allen möglichen Dingen, Geschehnissen, Sätzen einen Willen, vor dem ich ohne Schutz nicht bestehen kann. Und ich bezeichnete Menschen nicht nur als Jauche, sondern sah sie auch so vor mir. Ich meine, klar, die Gedanken sind frei, aber so etwas bin ich von mir selbst nicht gewohnt, verstehen Sie? Die Vernunft glaubt zu wissen: Es gibt den Willen nicht. Das Nervensystem glaubt zu wissen: Der Wille ist da, er ist real, renn weg, renn so schnell wie Du kannst, versteck Dich.

Also verstecke ich mich, wenn Sie so wollen, in Peter Arbogast. Und bin Ihnen sehr dankbar für diese Möglichkeit. Ein lohnendes Objekt ist er zweifellos. Ein Wolkenmeister. Einer, der Spuren hinterlässt, die bislang niemand schlüssig zu deuten vermochte. Weil sie sich ständig verändern, wie Wolken eben. Eine grosse, eine fantastische Flüchtigkeit. Ich könnte mir kein besseres Versteck für mich vorstellen.


2

Die Welt hörte von Peter Arbogast zum ersten Mal im Jahr 2000. Es war allerdings nur ein verschwindend kleiner Teil der Welt. 2000 nahm er eine Platte auf und gab sie im Eigenverlag heraus. Die Platte hiess „Hallo“. Arbogast war 21 Jahre alt. Interessant fanden die paar wenigen, die die Platte interessant fanden, vor allem ihre Entstehungsgeschichte.

Arbogast hatte sich drei Tage lang in einem Raum eingeschlossen, in dem sich ausser ihm nur ein Klavier und drei Mikrofone befanden; und ein Computer, mit dem er aufnahm. Er war – und ist bis heute – kein grosser Instrumentalist. Sein Klavierspiel ist rudimentär, er weiss gerade so eben, wie man welchen Dur- oder Moll-Akkord greift. Zumindest erweckt er den Eindruck. Naturgemäss hat niemand eine Ahnung, was genau in diesen drei Tagen passiert ist. 2004 erzählte Arbogast einem jungen Journalisten der Saarbrücker Zeitung, der sich übermässig für musikalische Grundlagenforschung begeistern konnte, übermässig jedenfalls, wenn man an die Leserschaft der Saarbrücker Zeitung denkt: „Ursprünglich wollte ich ein ausgetüfteltes Instrumentalalbum aufnehmen, das Elemente der Minimal Music, der südostasiatischen Volksmusik und des deutschen 20er-Jahre-Schlagers verbindet.“ Nach meiner heutigen Einschätzung von Arbogasts Persönlichkeit und seinen Methoden der Öffentlichkeitsarbeit muss man annehmen, dass diese Aussage völliger Mumpitz war. Jedenfalls fanden sich auf „Hallo“ elf Lieder, die das neue Jahrtausend begrüssten. Die Texte waren, so Arbogast, völlig improvisiert. „Ich hatte über 50 Stunden nicht geschlafen und dachte mir: Das wird nichts. Meine Hände zitterten wie die eines Greises. Also habe ich einfach „Record“ gedrückt und losgelegt.“ (Saarbrücker Zeitung)

„Es wird immer fetter werden, und es wird immer enger werden.“
 „Komm, grosser rosa Flamingo!“
 „Ich sitze hier und betrachte die riesenhafte Bahnhofsuhr, bis mein Augenlicht schwindet. Wir schreiben den 8. Januar 2000, ihr Arschgeigen. Ihr Arschgeigen! Geigt ruhig, ihr Möchtegernpaganinis.“
 „Auch Du, mein Sohn Schröder.“
 „Hör auf, krank zu sein. Das bringt doch nichts.“ 
 „Afrika! Afrika! Wer will heute noch nach Afrika? Nur die, die seltene Erden suchen. Sie backen aus ihnen den Mobiltelefonkuchen.“

Solche Liedzeilen ziehen sich durch „Hallo“. Peter Arbogasts Stimme klingt belegt, nur selten findet er wirkliche Melodien. Die Reime sind häufig, wie man an den Beispielen merkt, unbehelflich, sofern überhaupt welche vorhanden sind. Am Schluss, elf Sekunden nach dem elften Lied „Karacho“, einem ruhigen Stück über nächtliches Streifen durch leere Strassen, in dem nur der Akkord d-Moll in verschiedenen Zerlegungen gespielt wird, ertönt ein markerschütternder Schrei. Die meisten Kenner behaupten, es sei eine Frauenstimme. Arbogast hat sich einer Auskunft zu dieser Stimme bis heute verweigert. Nur wenige Kritiken zu „Hallo“ sind erschienen, und sie reichen von „unerträglich prätentiös“ (Neue Zürcher Zeitung, weiss der Teufel, warum die sich bemüssigt gefühlt hat, „Hallo“ zu rezensieren) bis „geiler Hirnfick“ (Combat, ein 2001 wieder eingestelltes Fanzine).

Es gibt aus jener Zeit keine Nachweise von Live-Auftritten Peter Arbogasts. „Hallo“ entschwand in den Weiten der Musikproduktionslandschaft.


3

Peter Arbogasts Vater Erich war Diplomat. Als Peter am 7. Juni 1978 in Brasilia geboren wurde, war Erich bereits 42 Jahre alt. Seine Karriere im Deutschen diplomatischen Dienst verlief im Grossen und Ganzen erfolgreich, allerdings scheint er einen grossen Bewegungsdrang gehabt zu haben. Er liess sich häufig auf eigenen Wunsch versetzen. Peter verbrachte seine Kindheit in Brasilien, den USA, Norwegen und Malaysia. Der Umzug nach Malaysia 1993 scheint bemerkenswert, weil sich Peter Arbogasts Eltern kurz davor auf Initiative seiner Mutter Salome getrennt hatten. Die Scheidung wurde 1996 ausgesprochen. Peter Arbogast, damals gerade 15 Jahre alt, bestand darauf, dem Vater nach Kuala Lumpur zu folgen.

„Warum soll das seltsam sein?“, antwortete Arbogast 2010 auf eine entsprechende Frage der Washington Post. Der Journalist setzte nach: „Nun, man könnte annehmen, dass die ständigen Ortswechsel…“ Arbogast unterbrach ihn: „Nehmen Sie ruhig an, aber ich frage Sie: Was zum Teufel soll daran seltsam sein? Sie haben keine Ahnung, was seltsam ist. Sie haben keine Ahnung, was Leichtigkeit ist. Noch eine Frage in diese Richtung, und ich breche das Interview ab.“ Das geschah dann auch, das Gespräch durfte nie veröffentlicht werden.

Peter Arbogast war zweisprachig – Englisch und Deutsch – erzogen worden. Seine Leistungen an den vier internationalen Schulen, die er besuchte, wurden einhellig als ausgezeichnet beurteilt. In den letzten zwei Jahren in Kuala Lumpur allerdings fiel er durch eine hohe Anzahl an Fehlstunden auf, das Abitur bestand er nur mit durchschnittlichem Erfolg. Ein Begutachtungspapier aus Oslo beschreibt ihn 1992 wie folgt: „A. ist ein wacher Kopf, lässt das aber nicht immer erkennen. Auffallend sind die grossen Unterschiede in seinem Sprachverhalten: Wenn er im Turnunterricht körperlich angestrengt ist, vor allem in Mannschaftsportarten, wird er laut, kommuniziert viel und zum Teil hektisch. Im Unterricht und im persönlichen Gespräch hingegen ist seine Stimme fast tonlos, er redet langsam und wohlüberlegt. Typisch sind seine langen Herleitungen bei Antworten auf Prüfungsfragen. Der Schulpsychologe Dr. Alsgaard hat in diesem Verhalten ein starkes Verlangen nach Absicherung festgestellt, so stark, dass man es als Hemmung bezeichnen könnte. Wir empfehlen den Eltern, unserem Wunsch nach Aufnahme in die schulische Basketballmannschaft zu entsprechen.“


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Interview mit Erich Arbogast, 15. März 2015, Trier

Herr Arbogast, erinnern Sie sich an die Zeit, in der Peter sprechen gelernt hat?

Äh … (Pause). Ja, das muss kurz nach unserem Umzug nach San Francisco gewesen sein. Ich arbeitete dort im Konsulat, man hatte mir nahegelegt, nach Washington zu gehen, aber ich … (Pause) Ich wollte nur noch Beamter sein, der ganze Repräsentationsquatsch … (Pause). Wissen Sie, wenn man ständig nur noch von Politikern und Geistlichen umgeben ist, dann kann einem das schon zu viel werden. Ich hatte die Schnauze voll, ich sagte damals immer (lacht), ich nehme mich aus der Schusslinie, obwohl da natürlich gar keine Schusslinie war.

Und Peter?

Aha, Peter, ja. Der sagte damals plötzlich etwas wie „pediu“. Das war schon (lacht) ein bisschen verrückt, wir hatten am Anfang keine Ahnung, was das heissen soll, und er hat ja vor allem immer Englisch und Deutsch gehört, nicht wahr? Aber irgendwie muss Brasilien in ihm weitergelebt haben, denn er hat dann auf unser Haus gezeigt und „pedju“ gesagt, und dann haben wir verstanden, dass er „predio“ meint, das portugiesische Wort für Gebäude. (Pause) Na ja, wahrscheinlich hat er schon auch, und wahrscheinlich schon vorher „Mama“ oder „Mommy“ gesagt und sonst noch unverständliches Zeug, aber das ist mir geblieben, dieses „pedju“.

War Peter ein soziales Kind?

Hä! (Pause) Nein, das kann man nun wahrlich nicht sagen.

Warum nicht?

Na, wissen Sie, das ist ja im Grunde keine Leben für einen Jungen, immer wieder diese Ortswechsel. Für mich war das die Welt. (Pause) Das ist ja doof, das zu sagen, es war ja wirklich die Welt, aber ich meine … ich wollte herumreisen, ein paar Jahre mit den Amis, ein paar Jahre in Skandinavien, und dann – schwupp – Malaysia, von mir aus hätte auch noch, was weiss ich, Usbekistan dazukommen können oder Neuseeland oder meinetwegen Burkina Faso. Ich hätte mich überall wohlgefühlt, drei Jahre lang. Das ist doch …

Und Peter?

(Seufzt) Na, spätestens ab Oslo hat er sich einfach schwer getan mit Freunden. Ich meine, schauen Sie sich doch an, was aus ihm geworden ist. Da allein in dieser Hütte oder diesem Haus am Fluss. Da lebt er doch jetzt, oder? Ich lese ja nur davon … manchmal … (lange Pause) Er hat nie Freunde nach Hause gebracht. Aber er ist zu ihnen hingegangen. Wenn er mit Jungen Kontakt hatte, hat er sie immer besucht. Einmal haben ihn in Oslo drei Langhaarige abgeholt, am Nachmittag. Die habe ich durchs Fenster gesehen. Ich habe mir da schon meinen Teil gedacht. Aber ich war dann auch … es war eine schwierige Zeit. Und dann hat uns dieser Alsgaard, ein widerlicher alter Mann, Verzeihung, wenn ich das so sage, zu einem Gespräch in die Schule gebeten. Der hat nur Unsinn geredet. Ich habe ihn jedenfalls nicht verstanden. Er wollte Peter ins Basketballteam stecken, aber Peter wollte nicht. Also ist er nicht gegangen. Ende der Geschichte … Wissen Sie, ich habe wohl Fehler gemacht, aber einen Vierzehnjährigen lasse ich doch selbst entscheiden, was er in seiner Freizeit tun und lassen will. Sonst kommt der ja nirgends hin. Oder nur dorthin, wo Leute wie … Alsgaard ihn haben wollen.


5

Sie merken vielleicht, es soll hier ein Flickenteppich ausgelegt werden. Ich denke, nein ich bin sicher, dass das die würdige, die angemessene Art ist, von Peter Arbogast zu erzählen.

Die ersten Gegenleser haben mir nahegelegt, systematischer vorzugehen. Streng chronologisch. Mit Kapiteln und Kapitelnamen, die die Stationen seines Lebens klar voneinander trennen. Mit klaren Zuweisungen: hier der „Mensch“, da der „Künstler“. Mit allen Daten schön übersichtlich im Anhang. Aber eine solche Zusammenfassung eines vielgestaltigen Wolkenmeisterlebens, eine solche Biografie, könnte jeder beliebige Kleingeist schreiben, wenn er ein bisschen recherchiert. Und sehen Sie, zweifelhafte Bilder von Jauchegruben hin oder her, ein Kleingeist bin ich nicht. Das wissen Sie ganz genau. Ich gehöre nicht zu denen, die mit Sorgfalt und Berufsehrenkodex angeben, die sich durch penibles Faktenerklären absichern, damit sie dann ihre Entstellungen, ihre Überzeichnungen, die nur Anpassung an eine allgemein akzeptierte Begriffsordnung sind, besser rechtfertigen können. Ich habe keine Lust, Aufregerpotential zu behaupten. Ich nehme die Sprache und schildere.

Mehr muss man gar nicht tun. Ausser durch geschickte Anordnung die Wachsamkeit des Lesers einzufordern. Hier soll jederzeit alles zur Sprache kommen können, hier soll hinter jedem Eck, hinter jedem Satzzeichen mit allem gerechnet werden müssen. Und zack, der Umzug nach Detroit. Und zack, die Sache mit dem neuen Dylan. Und zack, die Zeiten, in denen sich fast jede Spur verliert. Und zack, das Verhältnis zur Party ohne Herkunft. Und zack, die Abnabelung von den Eltern und die Versuche, sich an der Uni zurechtzufinden.

So, in dieser Reihenfolge, könnte es sein, so wird es aber nicht sein. Oder doch? Wie werde ich das Durcheinander bändigen? Ja ja, raten Sie nur. Das ist jetzt meine Arbeit, die Betonung liegt auf „meine“, und ich kann nicht anders. Weil ich nicht daran denken darf, was andere bevorzugen würden. Weil ich nicht zulassen darf, dass irgendjemand Marionettentheater mit meinen Gedanken und meinen körperlichen Reaktionen spielt. Meine Verwandtschaft darf das nicht und Sie auch nicht, geehrte Auftraggeber. Es muss hier ohne Abweichung weitergehen. Und es geht weiter. Verstehen Sie?
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