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Bis zuletzt die Zukunft
Tony Allen, Schlagzeuger.
„Wie kann das sein, dass Du der einzige Typ in Nigeria bist, der so spielen kann?“ So verblüfft zeigte sich Fela Kuti, der später mehr oder weniger den Afrobeat erfinden sollte, als er in den frühen 60er-Jahren seinen jungen Landsmann und Schlagzeuger Tony Oladipo Allen trommeln hörte. Dieses Gefühl der Überraschung und der Einzigartigkeit sollte Allen sein ganzes Leben lang verbreiten: Er war einer der nicht rasend häufigen Drummer, der mit seinem Instrument eine ganze Musikrichtung prägte. Ja, der im Grunde eine eigene Musikrichtung war. Tony Allens Spiel hört sich – für westliche Ohren jedenfalls – so an, als würde er ständig unglaublich genau und funky stolpern. Es gab und gibt hier sonst keinen, der so spielt.
In den 70ern war Allen der wichtigste Mann in Fela Kutis Band Africa ´70, die mit Unruhe und ausufernden Rhythmen ausgestattet durch Afrika und Europa zog. Er verliess die Band, weil er fand, dass Kuti seine Dringlichkeit verlor und sich auf Tour mit einer Horde mitgenommener Freunde zerstreute, statt Musik zu machen. Danach spielte Allen mit geistesverwandten Grössen wie Manu Dibango und arbeitete am Afrofunk, sozusagen der um Hiphop-und Clubmusik-Einflüsse erweiterten, modernisierten Version des Afrobeat.
Dass den Mann heute auch viele Pop- und Rock-Hörer kennen, geht auf Damon Albarn zurück. Der Kopf von Blur, der, wie es heisst, regelmässig die Afrika-Abteilungen obskurer Plattenläden durchstöberte, erfüllte sich 2006 einen Traum und machte eine Band mit Allen (und Paul Simonon von The Clash und Simon Tong von The Verve): The Good, the Bad and the Queen. Albarn setzte Allen später auch auf Soloplatten und bei der leider etwas abseits des Rampenlicht gebliebenen Cosmic-Dance-Supergroup Rocket Juice and the Moon ein (neben Flea von den Red Hot Chili Peppers und Erykah Badu). Exzellent stilvoll gekleidet und musikalisch insistent trat Allen praktisch bis zuletzt an World-Music-, Funk- und Rock-Festivals auf.
Sein womöglich allertollstes Vermächtnis ist aber eine kleine 10-Inch-Schallplatte: 2018 ging er mit Techno-Pionier Jeff Mills und dem Organisten Jean-Phi Dary ins Studio und nahm live vier Achtminuten-Stücke auf, die unter dem Namen „Tomorrow Comes the Harvest“ erschienen. 78 Jahre war Allen da alt, und er verkörperte noch einmal die Zukunft. Mit knappen, trocken rausgehauenen und dabei extrem variablen Mustern aus Snare-, Hihat- und Bassdrum-Schlägen treibt er eine futuristische Groovemusik voran und verspricht eine unerbittliche, aber bessere und grössere Welt. Es gab und gibt sonst keinen, der so spielt. Am 30. April ist Tony Allen in Paris wegen eines Aortenaneurysmas verstorben.
Erschienen im "Loop", Dezember 2020
Mutter, Popstar, Staat
Die 24-jährige Kanadierin Alice Glass ist der dunkle Engel der bösen, beglückenden Tanzmusik. Ihr Duo Crystal Castles hat mit seiner dritten Platte ein Meisterwerk abgeliefert.
Als die Crystal Castles letztes Jahr den John Peel Award für Innovation entgegennahmen, betrat Sängerin Alice Glass die Bühne mit Krücken. Sie hatte sich in Tokio den Fussknöchel gebrochen, was sie nicht davon abhielt, weiterhin live aufzutreten. Es war nicht Glass’ erste Verletzung. Auch zwei ihrer Rippen mussten schon dran glauben, auch in diesem Zustand bestritt sie Konzerte. Glass’ Bühnenverhalten mit Hang zur Verausgabung, wenn nicht gar zur Selbstzerstörung, gehörte von Beginn an zu den Kennzeichen der Crystal Castles.
Mit 14 war Glass aus der elterlichen Wohnung in Toronto ausgezogen, um in besetzten Häusern zu wohnen und in Frauen-Punkbands zu spielen. Mit 15 sah sie der Elektroniker Ethan Kath bei einem Auftritt. Er war so beeindruckt, dass er ihr eine Unzahl von Instrumentalspuren zukommen liess und sie bat, jene, die ihr am besten gefielen, mit ihrer Stimme zu versehen. Das Duo Crystal Castles war geboren.
Es schlug ein wie eine Bombe. Harsche Soundcollagen wie aus alten Computerspielen unterfütterten Wut und Exaltation. Hier krachte Tanzmusik gegen eine böse Welt und war gleichzeitig ganz offen Teil von ihr. Glass verwaltete all das mit grossem Charisma. Kath stopfte fiese, unwiderstehliche Ohrwurmanteile in seine knallenden, knisternden Instrumentals.
Zu der sofort beklatschten rohen Energie dieser Musik gesellte sich bei Crystal Castles ein zweites immenses Talent: Indem Kath Alice Glass’ Stimme bisweilen mit Hall, Tonhöhenwandler und Autotune bearbeitete, machte er sie zu einem Teil der Maschinerie. Durch den Hintergrund dieser Bits und Bytes flatterte die junge Sängerin wie ein dunkler Engel, was die Texte völlig unverständlich machte, aber eine an seltsame Gefühle appellierende Frage aufwarf: Kämpft da eine gegen den Lärm um sie herum an oder will sie sich entindividualisieren, sich im schmerzhaft süssen Rausch des Computerzeitalters auflösen?
Diese Fragestellung haben die Crystal Castles auf der aktuellen Platte «(III)» - kein Album der Band trägt einen eigentlichen Titel - verdichtet und in zwölf meisterliche Lieder umgewandelt. Zu Beginn verkündet Glass «Ich bin die Pest» und legt somit den Grundton fest für ein Album, auf dem es um das Zusammenwirken jener Kräfte geht, die diese Welt zu einem zerstörerischen Ort machen. Glass denkt darüber auch privat nach: In Interviews hat sie schon mühelos Statistiken zu bedrückenden Themen wie Kindesmisshandlung, religiöser Gewalt und Geschlechterdiskriminierung zitiert.
Wie die Crystal Castles solch düstere Voraussetzungen in ekstatische Tanzmusik mit Geräuschanteilen umwandeln, sucht seinesgleichen. «Sad Eyes» ist ein ansteckender Hit, der mit wenigen Worten die Burka als Instrument der Unterdrückung, aber auch als willkommene Schutzhülle in einem brutalisierten Leben deutet. In den musikalisch komplexeren Liedern «Transgender» und «Violent Youth» legt Glass den Schrecken in Begriffen wie Reinheit und Überbehütung frei. Die Sängerin ist auf «(III)» die Mutter, der Popstar, der Staat – Gerechtigkeit gerinnt in diesem Rollenspiel zur Farce. Und wenn Glass’ Stimme in «Kerosene» einem stammelnden Computerbaby «Ich werde dich vor allem beschützen, was ich erlebt habe» zuraunt oder in «Telepath» als zerhacktes, harmonisches Etwas durch die Synthesizer hastet, merkt man: Die Musik dieser einsatzfreudigen Band ist nicht nur bedrohlich. Sie ist auch wahnsinnig schön.
Erschienen im "Züritipp", November 2012
«Ich habe genug von Dir»
Aber wir nicht von ihm. Ein Schwall huldigender Worte über den König des Aufbegehrens im Rock.
Er hat das schönste Lächeln in diesem abgehalfterten Business. Ja, gemeint ist der Mann, der sagte: «Wenn ich nicht Terror mache, bin ich nicht Pop»; der sich am Konzert einst die Brust mit Glasscherben aufschnitt; der bis heute als Ritual Dutzende Zuschauer auf die Bühne holt und Minuten später dem ganzen Publikum den Fuck-Finger zeigt; der als Jazz- und Blues-Drummer begann, nur um dann, 1969, seine Stooges nach dem Kriterium des Instrumentnichtbeherrschens zusammenzustellen; der mit ebendiesen Stooges den Beat der 60er-Jahre und den aufkommenden Angeber-Hardrock ins Nihilistische, Zerstörerische, Angewiderte und Spöttische zog; der darum Punk machte, fast 10 Jahre bevor es Punk offiziell gab; der sagte, dass Punk ein Wort sei, das von «Dilettanten und herzlosen Manipulatoren» benutzt würde; der mit David Bowie in Berlin lebte, als der seine schwärzeste, verdrogteste Phase hatte; der die 80er- und 90er-Jahre damit verbrachte, seine Bürgerschreck-Texte über von fragwürdigen Moden (Wave! Hair-Metal!) gezeichneter Musik zu bellen; der stets mit nacktem Oberkörper und – wahlweise – mit durchsichtiger oder unter der Schamhaargrenze sitzender enger Hose auftritt; der zwischendurch französische Chansons sang oder Gedichte von Walt Whitman über abstrakter Elektronik rezitierte; der auch auf dem letzten Song seiner nach eigenen Angaben letzten Platte darauf besteht: «Hier gibts es nichts Tolles. Überhaupt gottverdammt gar nichts. Ich habe genug von dir. Ja, ich spreche mit dir!» Dieser Mann hat das schönste Lächeln des Rock ’n’ Roll. Und dieser Mann ist es wert, dass man hier mal einen Text ohne jeden Absatz hinknallt. Zumal der Auftritt bei Rock the Ring sein letzter in der Schweiz sein könnte. «Ich mag es immer mehr, zu betrachten, und immer weniger, beteiligt zu sein», sagte er im selben Interview, in dem er verkündet, dass (das ausgezeichnete) «Post Pop Depression» von diesem März sein letztes Album sei. 1977 schrie er im Song «The Passenger» über die Dinge, die er betrachtete, noch: «All das gehört dir und mir.» Nun lehnt sich der König auf seinem angenagten Thron zurück. Und tanzt und lächelt vielleicht noch einmal schön bei der Audienz in Hinwil.
Erschienen im "Züritipp", Juni 2016
Bringt diese Band Satisfaction?
«Langweilig. Nichts passiert.» So kommentierte jüngst ein Redaktionskollege einen Rolling-Stones-Tourfilm, den er gerade gesehen hatte. Besser kann man die ganze Karriere dieser musikhistorisch so bedeutend wirkenden Band nicht zusammenfassen. Ihre erste Single: ein Chuck-Berry-Cover. Ihre zweite Single: ein Beatles-Cover, die Originalversion hatte der Schlagzeuger Ringo Starr gesungen. Ihre dritte Single: ein Buddy-Holly-Cover.
Klar, in den frühen 60ern war es für junge Bands üblich, bestehende Rock-’n’-Roll-Songs nachzuspielen, dennoch scheint diese kleine Aufzählung symptomatisch: Es geht rückwärtsgewandt zu bei den Rolling Stones. Bis heute. Nur liegen mittlerweile 60 Jahre oder mehr zwischen der Gegenwart und der Musik, deren Geist die Stones-Songs atmen.
Wobei: Ist der Plural da richtig? Zugespitzt könnte man sagen, die Stones spielen seit 1964 immer ein und dasselbe Lied. Der ewig cool schleppende Groove, der ewig nostalgisch schroffe Riff, der ewig auffordernde, unmelodiös dahinschlenkernde Singsang. Als seltener eingesetzte Balladen- oder Halbtempovariante gibt’s dann noch «Angie» beziehungsweise «As Tears Go By». Ja, sie haben mit diesem einen Lied das Spiel des Pop eine kurze Zeit lang aufgeraut. Und ja, es ist natürlich jedem unbenommen, dieses eine Lied zu lieben. Aber es ist eben nur eines. Mit ihrem kaugummikauenden Beharren verkörpern die Stones den Tod des künstlerischen Prinzips.
Weiss der Himmel, warum diese Band als rebellisch galt oder gar gilt! In den 60ern gab es ein paar Momente, in denen Mick Jagger androgyn geschminkt im weissen Gewand über die Bühne kroch und Gefahr ausstrahlte. Rasch aber pendelte sich die Band auf eine seltsame, machohafte, drogenzerknitterte Konservativität ein. Man muss da gar nicht den entsetzlichen Ich-züchte-mir-ein-braves-Weib-heran-Text zu «Under My Thumb» zerlegen, auch die Aufputscher dieser Band («Start Me Up») sind beklemmend inhaltsleer und folgenlos. Der «Tumbling Dice», als der sich Mick Jagger beschreibt, verbreitet nur die Unruhe einer gospelhaften Selbstherrlichkeit. Der Teufel, den er in «Sympathy for the Devil» beschwört, faucht nicht böse, sondern macht «Hu-huu!».
Und so geht es dahin bei diesen Reproduzenten eines recht leer vor sich hin kreisenden Mythos. Nein, halt! Einmal haben sie doch Disco gemacht, damals, 1980, mit «Emotional Rescue». Ja, das haben sie, und genau darum gilt diese Platte ja auch manchen bis heute als keine «richtige» Stones-LP. Seither: Langweilig, nichts passiert. Ausser dass Keith Richards einmal von einer Palme fiel. Immerhin, das war die sympathischste Rockstarverletzung aller Zeiten.
Erschienen im "Züritipp", Mai 2014
Erbarmen
Auf einer abgelegenen Biofarm wird der erschütterndste Metal dieser Jahre gemacht.
Der Name sagt ja schon alles. Wolves in the Throne Room. Die Natur erobert sich die von grössenwahnsinnigen Menschen hingekasperten Prunkgebäude zurück. Wir sind endlich. Wir sind arrogante Jammergestalten. Wir werden verlieren.
Konsequenterweise operieren die Gebrüder Weaver von einer gottverlassenen Farm im Nordwesten der USA aus. Dort bauen Nathan (Gitarre) und Aaron (Schlagzeug) makrobiotische Pflanzen an, dorthin laden sie sich ähnlich gesinnte Freunde ein, dort streifen sie durch verwunschene Farnlandschaften. Und dort hauen sie in ihre Instrumente, dass die Musikwelt erzittert.
Wolves in the Throne Room haben das nicht zu unterschätzende Kunststück geschafft, mit ihrer extremen Spielart des Metal für harte Rocker und Indie-Freunde gleichermassen attraktiv zu sein. Die scheinbar völlig weltabgewandten Weavers verhalfen dem Black Metal in den USA zu neuer Popularität. Sie schafften das mit einem ausgeprägten Gefühl für Atmosphären und einer urwüchsig radikalen Herangehensweise.
Typische Wolves-Stücke sind um die zehn Minuten lang. Über extrem flächigen, verzerrten, dabei traurigen Gitarren werden sensible Naturbetrachtungen gejapst. Dann wieder singt eine Frauenstimme ergreifende, sakrale Melodien. Und alles fliesst wie der Yukon. Nach dem Hören einer Platte, etwa der letztjährigen «Celestial Lineage», fühlt man sich, als hätte man nicht geheadbangt, sondern meditiert; wenn auch mit einem leichten Klingeln in den Ohren. «Die Leute sollen sich an unseren Konzerten nicht aggressiv verhalten», sagte Aaron Weaver einmal, «sie sollten auf dem Boden liegen und weinen.» Weil der Grundsound der Band so böse, so überwältigend ist, machen auch abgebrühte Metaller beim reinigenden Flennen mit.
Erschienen im "Züritipp", Mai 2012
Stur, poetisch
Während der aktuellen Tour spielen R.E.M. auffallend viele Lieder aus ihrer Frühzeit. Und die hatte es in sich. Ein Blick zurück auf die Jahre, in denen R.E.M. ein neues Rock-Verständnis verkörperten.
Liegt es an den fünf Mandolinentönen? Liegt es an der paradoxen Zeile «Oh nein, ich hab zu viel gesagt. Ich hab nicht genug gesagt.»? Liegt es am Video mit seinen bizarr-kitschigen Inszenierungen von Männerbildern? Fest steht: Seit dem Hit «Losing My Religion» von 1991 kennt man R.E.M.; seither ist die Welt um eine Megastar-Band reicher. Der überaus charismatische Sänger Michael Stipe und seine Freunde haben ihre Bestimmung gefunden. So soll es wohl sein.
So war es aber lange nicht. R.E.M. existierten bereits elf Jahre und sieben Platten lang, als sie zu Weltruhm kamen. Mit dem Lebenslauf der Band könnte man die Gültigkeit des Tellerwäscher-Mythos belegen: Eine Indie-Band öffnet sich Schritt für Schritt, von Platte zu Platte einem immer grösseren Publikum, lässt sich nicht blenden und wird schliesslich dank Fleiss und Glück reich. Das Beispiel R.E.M macht aber auch deutlich, dass es Qualitäten und Eigenarten gibt, die in einem solchen Prozess unausweichlicherweise auf der Strecke bleiben.
Suchen Sie zum Beispiel ein paar Minuten auf der Videoplattform Youtube, und Sie werden einen Auftritt von 1985 finden, in dem ein platinblond gefärbter Sakkoträger androgyn, aber ungelenk vor einer Südstaaten-Countryband herumtanzt und den Song «(Don’t Go Back to) Rockville» ins Mikrofon murmelt. Sie werden avantgardistische Super-8-Filmchen sehen, in denen die Bewegungen der Menschen (sofern welche zu sehen sind) nichts, aber auch gar nichts mit den dazu gespielten Liedern zu tun haben. Sie werden rasante, unverzerrte Akkordzerhackereien und Melodiechen auf der Gitarre hören, die auf ungewöhnliche, aber sehr eingängige Weise die Seligkeit der Byrds mit der Energie des Punk verbinden.
Und so lief es ab: 1980 gründeten vier Freunde, der Gitarrist Peter Buck, der Sänger Michael Stipe, der Bassist Mike Mills und der Schlagzeuger Bill Berry, die Band R.E.M. Ihr legendärer erster Auftritt fand in einer pflanzenumwucherten, stillgelegten Kirche statt. 1981 erschien die erste 5-Song-EP, 1982 die erste Langspielplatte. 1983 traten sie erstmals in der wichtigen TV-Show von David Letterman auf. 1987, als sie auf den Radiostationen der US-Universitäten längst zu Heldenstatus gekommen waren, hatten sie mit «The One I Love» ihren ersten Mainstream-Hit. 1989 unterschrieben sie einen Vertrag mit Warner, einem der marktbeherrschenden Major-Labels.
Die ersten sechs Platten von R.E.M. zeigen eine Band, die das Geheimnis pflegt und sich gegen rasche Zuordnungen wehrt. Der Gesang ist akustisch schwer verständlich, träumerisch, er basiert auf Assoziationen, ist vielseitig deutbar und wirkt in seiner poetischen Sturheit doch immer rebellisch. Zu Songs wie «Carnival of Sorts» oder «Pretty Persuasion» kann man sich auf dem Tanzboden die Seele aus dem Leib schütteln und fühlt sich kräftig und zerbrechlich zugleich. Dazu tragen auch die scharf klappernden, aber schlanken Rhythmen und das - siehe oben - zittrige, markante Gitarrespiel bei.
All diese Dinge haben R.E.M. mit ihrem grössten Hitalbum - «Automatic for the People», der Platte nach «Losing my Religion» - abgelegt. Michael Stipe weiss nun, dass er ein Riesenstar mit mitgelieferter Vorbildfunktion ist. Sozusagen per definitionem muss er für alle verständlich sein: In Songs wie «Drive» und später «Hope» wendet er sich etwa in Helferabsicht direkt an eine orientierungslose Jugend. Peter Buck schlägt immer öfter herkömmliche, breite Power-Akkorde. Bill Berry steigt 1997 aus, seine Gesundheit ist angeschlagen, seine Motivation hat gelitten.
Dafür haben R.E.M. 1995 den zum Zeitpunkt seines Entstehens teuersten Vertrag der Popgeschichte unterschrieben. Bis heute hält sich der eine oder andere Hit (etwa «Imitation of Life») in den Radio-Playlisten länger als allgemein üblich. Vor dem Kölner Dom oder auf der Piazza in Locarno spielt die Band Riesenkonzerte. Michael Stipe nutzt seinen Ruhm, um als Umweltaktivist in Erscheinung zu treten. So soll es wohl sein. Nur ein paar schöne, notwendige Ungeklärtheiten, ein paar Irritationen fehlen. Auf Youtube sind sie weiterhin abrufbar.
Erschienen im "Züritipp", September 2008
HÚLLABBALA
Musik wie schönes Fieber: Die isländische Soundvereinigung Múm bringt ihren verspielten Folk nach Winterthur.
Es ist wieder Zeit für interessante Fakten aus dem Leben Ihres demütigen Musikredaktors (IdM): Am 16. Mai 2004 hatte IdM Fieber. Das weiss er so genau, weil er jenen Abend aus beruflichen Gründen am Konzert der Band Múm im Clubraum der Roten Fabrik verbrachte. Heute würde das von manchen vielleicht als grobes Verbrechen gegen die Volkswirtschaft betrachtet, aber das ist jetzt egal, denn es geht ja um Musik.
Und die war an jenem Abend formidabel. Gerade fiebrig veranlagte Menschen können sich an Múm-Konzerten äusserst wohl fühlen. Auf der Bühne standen überdurchschnittlich viele Menschen, die oft und gerne Instrumente wechselten beziehungsweise plötzlich Instrumente ins Spiel brachten, die vorher nur unbemerkt herumgestanden hatten. Ambientpop-Sinfoniechen von drei bis zehn Minuten Länge wurden gegeben, aber schon das mit der Länge ist nur eine Behauptung, weil sich - zumindest in der Erinnerung - eins ins andere schob, es wurde sozusagen ein von grossen Harmonien, Geräuschen und Wispern getragenes Gesamtkunstwerk aufgeführt, das irgendwie immer noch Popmusik war und viele Anwesende sehr glücklich machte.
In diesen Tagen veröffentlichen Múm ihre sechste CD «Sing Along to Songs You Don’t Know». Sie sind nach einigen personellen Wechseln song-orientierter geworden. Zusammen mit ihrer Liebe zu unüblichen akustischen Instrumenten wie singende Säge, Banjo und Vibrafon ergibt das kauzigen, durchaus kräftigen Folk, ähnlich wie bei ihren berühmteren Landsleuten Sigur Rós. Kindsköpfe auf der Suche nach Schönheit, würde IdM mit aktuell 36,6 Grad Körpertemperatur sagen. Der eingängigste Song auf der neuen CD heisst «Húllabbalabbalúú».
Erschienen im "Züritipp", September 2009
Ich bin der Grösste
Roger Waters baut wieder einmal seine Mauer auf. In einem so mächtigen wie verwunderlichen Riesenspektakel. Eine Annäherung im Strudel der Gefühle.
Lassen Sie sich von Ihrem demütigen Musikredaktor (IdM) kurz nach Griechenland entführen. Und zwar nicht, weil zwei Mitglieder der englischen Band Pink Floyd, als «The Wall» 1979 aufgenommen wurde, aus steuerlichen Gründen in Griechenland residierten. Nein, im Sommer 1980 erhielt IdM, elf Jahre alt, von seinem Vater die Audiokassette von «The Wall» geschenkt. Im Kämmerchen hörte er sie sich täglich an, anstatt die Sommertage an der Meeresbrandung zu verbringen. Davon, dass es solche Rockmusik gab, hatte IdM keine Ahnung gehabt.
Jeder Song ging in den nächsten über. Seltsame Geräusche kamen aus den Boxen des tragbaren Kassettengeräts, beruhigende (Babylallen, Vogelgezwitscher) und gewalttätige (Sirenen, unbestimmbares Geschrei, zerberstende Fernsehapparate). Die Gitarren klangen wie futuristische Dampfwalzen. Wie war das zu verstehen? In IdMs schmächtigem Brustkorb wuchs Begeisterung heran, er lernte etwas Wildes, Übersteigertes kennen, das es ausserhalb von Musik nicht zu kaufen gab.
Gerade dieses Übersteigerte begründete den Triumph von «The Wall». Und die Ablehnung, die die Platte von Kritikerseite immer wieder erfuhr. Roger Waters, in jenen Jahren der – vermutlich diktatorische - Sturkopf von Pink Floyd, hatte das Konzept der Rock-Oper zum Äussersten getrieben. Harsche Effekte standen über musikalischen Subtilitäten. Die Macht des individuellen Gefühls war wichtiger als eine schlüssige Geschichte. Denn warum genau wurde da jemand mit einer überbehütenden Mutter, einem bösen Lehrer und einer untreuen Gattin zum Rock-Faschisten? Und wer zum Teufel war der grausige Richter, der ihn dazu verurteilte, die Mauer niederzureissen, um «vor seinesgleichen entblösst» dazustehen?
Der Vorwurf, den viele Schreiber zwei Jahre nach der Siegesfeier des Punk Roger Waters machten, war der einer überteuerten Wehleidigkeit. Es schien ihn mässig zu kümmern. 1990 führte Waters «The Wall» im Niemandsland des Potsdamer Platzes in Berlin vor einer knappen halben Million Menschen auf. Mit den Scorpions, Sinéad O’Connor, Van Morrison und anderen. Und als die digitale Konzerttechnik neue Dimensionen harscher Effekte erschloss, ging er 2010 mit dem Monsterwerk wieder auf Tour. Die Mauer, die im Lauf der ersten Konzerthälfte zwischen Publikum und Band hochgezogen wurde, war nun eine Projektionsfläche. Sie liess sich in Sekundenschnelle scheinbar wieder öffnen und schliessen. Graffiti erschienen auf ihr, die sich auf aktuelle Konflikte bezogen. Und jetzt, auf der Open-Air-Reise, soll das Bauwerk doppelt so breit sein wie noch 2011 im Hallenstadion.
Riesig ist auch der Zwiespalt: Eine Liedersammlung, in welcher der unheilvolle Wunsch der Massen nach übergrossen Weltraumgefühlen schon im ersten Lied zynisch angesprochen wird, wird in einem mehr als übergrossen Spektakel dargeboten. Aber es gibt Schlimmeres als Zwiespälte, und «The Wall» stellt den Irrsinn, um den es geht, passenderweise mit irren Mitteln dar. Mit Dampfwalzengitarren, Geschrei, gepressten Klagegesängen, Explosionen, Bildergewittern. Bis heute steht IdM ungläubig grinsend und bisweilen kopfschüttelnd vor dieser Oper. Wäre er elf, würde er jetzt vollständig durchdrehen.
Erschienen im "Züritipp", September 2013
Martialischer Messias
Warum Xavier Naidoo? Ihr demütiger Musikredaktor begibt sich auf eine verzweifelte Sinnsuche.
Es gibt Dinge, die versteht Ihr demütiger Musikredaktor (IdM) nicht. Schokoladejoghurt zum Beispiel. CD-Plastik-Cover. Und Facebook. Beklemmend wirds, so findet er, wenns dabei nicht um handfeste oder digitale Industrieprodukte geht, sondern um seine Kernkompetenz: um Musik.
Bei Xavier Naidoo, dem höchst erfolgreichen Soulsänger aus Mannheim, liegt der Fall so: Er hat die Holprigkeit, um nicht zu sagen die Unmusikalität deutscher Texte in neue Dimensionen geführt. Und trotzdem gilt er überall, auch bei seinen Kritikern, als Messias des Gesangs. «Seine Wege, der Herr führt sein Heer / Und Eure schlecht gebauten Pfade machen es dem Thronwagen schwer.» Was ist denn das für ein Geknautsche? Was ist das für ein uneleganter Silbenwurm? Es ist etwas Holzschnittartiges um diesen Naidoo, obwohl seine Stimme, so heisst es, an Geschmeidigkeit nicht zu überbieten sein soll.
Ein Höhepunkt in dieser Hinsicht ist das Lied «Danke», das 2006 nach der Fussball-WM entstand. Naidoo bedankt sich bei der deutschen Auswahl. Diese schon an sich grenzwertige Popsongidee wird umgesetzt in Reime wie: «Der 4. Juli dieses Jahres war kein schlechter Tag / Der 4. Juli war nur einfach nicht euer bester Tag» oder «Wir salutieren vor Kapitän Michael Ballack / Du hast trotz deiner Schmerzen krass geballert.» Vorgetragen mit salbungsvoll weinerlichem Zeremonienmeistergesang. Grotesk, grotesk!
An den Beispielen sieht man auch: Naidoo hat eine Neigung zum Martialischen. Heere marschieren zur Erlösung auf, es wird vor Helden salutiert, und Gott wird es den Ungläubigen schon noch zeigen! Denn ausser Gott kann man keinen Lichtgestalten vertrauen, auch wenn man sie sich inständig herbeiwünscht: «Wo sind unsere Führer? Unsere starken Männer?», sang Naidoo 2013.
Pathos ohne Charme, Mäandern ohne Melodie, Humorlosigkeit und dazu absurd autoritär geprägte Ansichten: Wie kommt dieser Herr zu solcher Beliebtheit? Dass etwa ein Andreas Gabalier – der Volksmusik-Akkordeonmacho aus Tirol – für manche ein attraktives Rolemodel ist, leuchtet IdM ein. Aber für wen ist es erstrebenswert, Naidoo zu sein? IdM wünscht sich sehnlichst eine Erklärung. Freilich, Wünsche gehen nicht immer in Erfüllung. Wie auch Xavier Naidoo weiss: «Wir haben uns so gewünscht, dass Bernd Schneider / dieses eine Tor macht, doch es wurde nichts leider.»
Erschienen im "Züritipp", Juli 2015
GROSSAUGE
Der Playboy des Wahnhaften ist wieder da: In den Sprechchansons von Jacques Palminger zerrinnen die Grundlagen der Logik.
«Nächstes Jahr sollen diese vor umnachteter Weisheit strotzenden Pretiosen endlich auf CD gepresst oder besser gesagt zart einmassiert werden.» So frohlockte Ihr demütiger Musikredaktor Ende 2001. Er hatte in jenem Jahr zum ersten Mal den deutschen Sprechchansonnier Jacques Palminger seine unerklärlichen und unerklärlich schönen Stücke vortragen hören.
Im Herbst 2008 dann, lächerliche sieben Jahre später, war es so weit: «Mondo Cherry» erschien, die CD von Jacques Palminger & The Kings of Dub Rock. Der Charme der Homerecording- und Orchesteraufnahmen von 2001 wich der Solidität von Dub-Tracks aus Händen und Hirn von Produzent Viktor Marek. Die Grundanlage von Palmingers Kunst aber blieb gleich: Mit der grossäugigen Überzeugungskraft eines Sektenvertreters spricht der Hamburger Texte ins Mikrofon, und die innere Logik dieser Wortschwälle preist die Fantasie des Menschen, verdreht Phrasen und zersetzt die Wirklichkeit.
Der Playboy, der über den grossen «Banana Love Boat Becher» sinniert und den «Verräter», der ihn als Playboy bezeichnet hat, mit einem Backblech traktieren will; der Verehrer des durch Harakiri zu Tode gekommenen homosexuellen japanischen Nationalisten Yukio Mishima; der Mann, der sich wünscht, in eine «Gruppe von jungen Ohrenärzten» aufgenommen zu werden, und feststellt, er sei für sie ja doch nichts als ein «Geruch aus dem Wartezimmer»: Das sind Figuren, in die sich nur Palminger verwandeln kann. Nein, er verwandelt sich nicht in sie, sie wachsen aus ihm heraus.
Dass das in Verbindung mit Mareks tanzbaren Midtempo-Stücken und dem Gesang von Rica Blunk ein grosses Live-Vergnügen ergibt, hat das Trio bereits im September in der Total Bar bewiesen. Also: Hirnsegel hissen und ab zum Konzert!
Erschienen im "Züritipp", Februar 2009
Selbstbehauptung
Statistiken gibts. Gerade im Pop. Man weiss, wer die meisten Platten verkauft, wer das grösste Konzert gespielt und wer die meisten Nummer-1-Hits auf Borneo gehabt hat. Wenn aber der oder die geneigte Musikliebhabende allein daheim vor der Soundanlage sitzt, zählen Statistiken gar nichts. Dann zählt nur das private Universum und welche Musik diesem womöglich etwas irrsinnigen Universum am besten Ausdruck verleiht. Irgendwo im CD-Regal, auf dem iPod oder in der Schublade mit den Kassetten hat fast jeder seine geheime beste Band der Welt; und die Beatles, Bob Dylan und Radiohead können einpacken.
Manche Bands eignen sich besser für diese Rolle als andere. Besonders gut eignet sich das US-Duo Ween. Was an den beiden angeblichen Brüdern Dean und Gene Ween ganz offenkundig erstaunlich ist, ist rasch erklärt: Man meint, sie können alles. Ihr demütiger Musikredaktor (IdM) ist in den 90er-Jahren sicher ein halbes Dutzend Mal in einem halben Dutzend Bars zu einem halben Dutzend DJs gegangen, um sich nach dem grossartigen Stück zu erkundigen, das da gerade lief. Einmal war es Disco Funk, einmal Prog Rock, einmal ein Surf-Popsong, einmal eine Country-Polka, einmal ein Sprechstück über mexikanisches Fastfood, einmal ein Western-Epos. Immer hiess die Antwort: Das sind Ween.
IdM kam aus dem Staunen nicht heraus, mehrere Jahre lang. Eine solche Kombination aus abgefahrensten Soundideen (Heliumstimmen! Weltraumgitarren!), kompositorischer Perfektion und völliger Anstrengungslosigkeit war ihm bis dahin nicht begegnet. Mit der Zeit aber begann ihn etwas anderes, weniger Offensichtliches zu faszinieren: dass der ganze wunderbare Firlefanz den Gebrüdern Ween nicht dazu dient, möglichst irre zu wirken, sondern möglichst normal zu werden.
Da arbeiten sich zwei, insbesondere Sänger Gene, an der Welt ab und setzen auf völlige Unberechenbarkeit, um nicht vor die Hunde gehen zu müssen. Das beweisen etwa die sanften, unglaublich ergreifenden Balladen, die hin und wieder auftauchen, etwa «She’s Your Baby» (von «White Pepper», 2000) oder «Lullaby» (von der aktuellen CD «La Cucaracha»). Ween, das sind immer auch zwei grandios konsequente Rock-Eigenbrötler auf der Suche nach Schönheit.
Erschienen im "Züritipp", Mai 2008
An Ecken und Enden
Lieber viel machen als viel wollen: Animal Collective vertonen die Postmoderne.
Unangenehmerweise muss Ihr demütiger Musikredaktor (IdM) diesen Text etwas altväterisch beginnen. Kennen Sie das quäkende, delirierende Blasinstrument im Beatles-Lied «Baby You’re a Rich Man»? Es spielt fast immer, wenn John Lennon nicht singt, und beim Hören legt sich der Kopf wie von selbst schief, sobald es einsetzt. Die Musik von Animal Collective, insbesondere die auf der neuen Platte «Centipede Hz», besteht aus gefühlten Tausenden solcher Momente.
Mit ihrer Ästhetik der Überforderung sind Animal Collective aus Baltimore eine der beliebtesten Indie-Bands geworden. Die Mischung aus winkeligen Rhythmen, euphorischen Gesängen, Brüchen und reichlich Verziermaterial fängt zweifellos ein modernes Lebensgefühl ein. Auch live hält sich das Quartett nicht gross mit eventuellen Umsetzungsschwierigkeiten auf. Da wird tüchtig reingehalten, die intelligente Party will schliesslich ohne Unterlass befeuert sein. Dichte ist dieser Musik alles, und Animal Collective erzeugen sie so hartnäckig wie einfallsreich. Es könnte Zürich also durchaus ein Höhepunkt der Konzertsaison bevorstehen. Nur manche altväterische Typen wie IdM stehen vielleicht herum und vermissen den Kern des Aufbegehrens in diesem Wust, der den Zierrat fast zur Hauptsache macht.
Erschienen im "Züritipp", November 2012
Es kommt zurück
Einst hiess das Hardrock: Die vier Schminkmonster von Kiss sind zum 35. Bandgeburtstag wieder auf Tournee. Nicht ganz original, aber immer noch lustig.
Pubertät. Wie viel Zauber, wie viel Geheimnis liegt in diesem Wort. Bei Ihrem demütigen Musikredaktor (IdM) war es so, dass viele seiner männlichen Mitbetroffenen unerklärlicherweise Musik von vier angemalten, kostümierten Hanswursten hörten, die IdM - als Freund hochstehenden Prog Rocks wie z. B. Pink Floyd - natürlich rundum ablehnen musste. Trotzdem wurde er regelmässig genötigt, sich Songs mit Namen wie «Rock and Roll All Nite», «God of Thunder» oder «I Love It Loud» anzuhören.
Viele Jahre später, 1999, waren die Hanswurste schon etwa 50 Jahre alt. Trotzdem nannten sie sich immer noch Kiss und hatten beschlossen, zum ersten Mal seit langer Zeit in Originalbesetzung und-bemalung auf Tour zu gehen. Es klopfte bei IdM an der Tür, und die Pubertät stand davor. «Komm mit mir zum Konzert», sagte sie, «sonst gibts wieder Haue, so wie damals.»
Unter Protest fügte sich Ihr pazifistischer Musikredaktor. Doch er hatte ein wenig Angst; Angst vor allem davor, von seinen ehemaligen Folterknechten beim Mitwippen erwischt zu werden. Denn irgendwann im Lauf der Jahre hatte die Zeit ihren Job erledigt, und die stampfenden Rocksongs aus jener lang zurückliegenden Vergangenheit schienen IdM gar nicht mehr so schlimm. Er wollte stark bleiben, doch spätestens bei «Shout It out Loud» (ja, die Titel verraten, dass Kiss in ihren Liedern nicht wahnsinnig viele verschiedene Themen aufgreifen) schob sich ein Grinsen in sein Gesicht. Dann spielte Schlagzeuger Peter «The Cat» Criss das langsamste Solo, das je in einer Konzerthalle zu hören war, und als Gitarrist Ace «Spaceman» Frehley wie ein kleines Kind zu einem vorbeifliegenden Special-Effect-Kometen aufsah, war es um IdM geschehen: Rührung hatte sich in sein Herz geschlichen.
Es soll hier nicht verschwiegen werden, dass der Sound an jenem Konzert insgesamt sehr rüstig, um nicht zu sagen rockig war. 2008, wenn Kiss zwar in Originalbemalung, nicht aber in Originalbesetzung touren, wird das nicht anders sein. Als Peter Criss tritt Eric Singer auf, als Ace Frehley Tommy Thayer. Das mag wie ein etwas billiger Trick wirken, schlägt sich aber, wenn man Konzertberichten glauben darf, musikalisch positiv nieder. Die beiden Oberzampanos Gene «The Demon» Simmons und Paul «Starchild» Stanley sind sowieso immer einigermassen in Form geblieben. Und das Songmaterial stammt zu einem guten Teil aus dem unter pubertären Fans kultisch verehrten ersten Konzertmitschnitt «Alive» von 1975. Einem turbulenten Comic-Pop-Rock-Fest inklusive Feuer- und Blutspuckshow steht also nichts mehr im Wege.
Erschienen im "Züritipp", Juni 2008
Werde Ganz!
Die bayerische Saftwurzel Konstantin Wecker scheint ein Unbelehrbarer zu sein. Der Versuch einer Wiederannäherung.
«So, es reicht.» Das dachte sich Ihr demütiger Musikredaktor (IdM), als er irgendwann in den frühen 90er-Jahren ein Fernsehporträt von Konstantin Wecker sah. Wecker hatte damals sein überaus bekenntnisreiches Geständnis, jahrelang Kokain konsumiert zu haben, und eine Verhaftung hinter sich. Nun sass er mit einer viel jüngeren Frau in einer vor Biederkeit strotzenden Wohnung, ass Sushi und schwadronierte davon, wie intensiv er gerade die Häuslichkeit entdecken würde. Es war nicht auszuhalten.
Hatte der Mann denn nichts gelernt? Ganz offensichtlich war ihm seine Veranlagung, aus jedem noch so unbedeutenden Ding unglaubliche Intensität hervorkratzen zu wollen – am liebsten vor einem möglichst grossen Publikum –, zum Verhängnis geworden. «Genug kann nie genügen», hatte er gesungen. Davon hatte IdM nun endgültig genug.
Zwanzig Jahre später muss man sagen: Konstantin Wecker wird sich kaum mehr ändern. Seine letzte Platte heisst «Wut und Zärtlichkeit», der Titelsong enthält Zeilen wie «Sei ein Heiliger, ein Sünder, gib dir alles! Werde ganz!» Zwar hat er laut eigener Aussage viel – gerade durch die Rückschläge – gelernt, und auch eine Phase als Mystiker will er durchgemacht haben; aber er wird, solange ihn die Vitalsäfte durchströmen, wohl immer am Klavier sitzen, dreistündige Auftritte absolvieren, viel schwitzen und seine Gefühligkeit ohne Scham durch die Konzerträume galoppieren lassen.
Und, na ja, wie soll IdM es sagen, warum auch nicht? In den 70ern war Wecker es gewesen, der mit Liedern wie «Ich liebe diese Hure» der politischen Linken einen Schuss unberechenbarer Lebensprallheit verpasst hatte. Heute finden sich auf «Wut und Zärtlichkeit» satirische Politsongs, die in aller Offenheit heftige Finanzkapitalismuskritik betreiben. Seine Wortschwälle mögen nicht unbedingt originell oder uneitel sein. Aber die Sturheit dieses Extrembayern kann einem schon Respekt abnötigen. Hier steht einer, ein wenig aus der Zeit gefallen, ohne Rücksicht auf Verluste zu seinem Künstlermodell. Genug zu haben, ist darin noch immer nicht vorgesehen.
Erschienen im "Züritipp", März 2014
Tausend Jahre sind ein Tag
Musik kann die Welt verändern, Teil 147: Vor etlichen Jahren bekam Ihr demütiger Musikredaktor (IdM) in gemütlichem Rahmen erstmals die legendenumwobene Debütplatte der Krautrock-Band Neu! zu hören. Dazu wurden Genre-Anekdoten erzählt, etwa jene von der fast ebenso ruhmreichen Band Can, deren Musik bei Studioaufnahmen sämtliche Uhren zum Stillstand gebracht haben soll. Nach gefühlten 45 Minuten schöner, fliessender, minimalistisch sich verschiebender Rockmusik schaute IdM auf die Anzeige des CD-Players. Zehn Minuten waren vergangen. Warum das jetzt erzählen? Weil mit Rizzoknor ein Zürcher Elektronik-Rock-Trio konzertiert, das mit sanft treibenden, modernen Grooves eine ganz ähnliche Wirkung erzielt: Alles gleitet, die Zeit steht still.
Erschienen im "Züritipp", September 2008